Telefonbäume & Bitter Lemon aus Palmen

Afrika in Amerika – Die geheimnisvolle Maroon-Kultur oder Dschungelcamp am kleinen Amazonas.

Der obere Suriname gurgelt über rundgeschliffene Granitfelsen, die wie reglose Nilpferde im Wasser kauern. Er sprudelt durch Stromschnellen, die unser bunt bemalter Holzkahn nur mühsam überwindet. Manchmal steigen die Bootsführer aus und schieben das Boot in knietiefen Strudeln gegen die Strömung an. Urwaldriesen säumen die Ufer zu einer grünen Wand – verwoben von Schlingpflanzen mit pinselförmigen roten Blüten. Aus dem Dschungelinneren tönt ein wildes Konzert. Affen brüllen, Vögel flöten, Frösche unken und Grillen kreischen wie Kreissägen.

Regenwälder mit 1.000 Baumarten

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Suriname, die frühere Kolonie Niederländisch-Guyana, ist das kleinste unabhängige Land auf dem südamerikanischen Kontinent. (Foto: Fotolia/Peter Hermes Furian)

Wir sind am kleinen Bruder des großen Amazonas, der große ist nur rund 500 Kilometer Luftlinie entfernt. Da erfahren wir, dass die beiden Flüsse nicht miteinander verbunden sind. Nicht einmal eine Straßenverbindung gibt es zum südlichen Nachbarland Brasilien. Genau genommen gibt es gar keine Straßen. Wasserläufe sind die einzigen Transportwege im undurchdringlichen Urwald von Südsuriname. Und noch etwas irritiert: Alle zwei bis drei Flusskilometer waschen bunt gewandete schwarze Frauen auf den Felsen am Ufer ihre Wäsche und halbnackte schwarze Kinder tollen im Wasser herum. Hinter ihnen lugen aus dem Regenwald mit Palmstroh gedeckte Holzhäuschen hervor. Szenen aus Afrika in Amerika.
1667, nach dem Zweiten Englisch-Niederländischen Seekrieg, erhielten die Holländer Suriname von den Engländern im Tausch gegen Nieuw Amsterdam, das spätere New York. Einst zur Kolonie Niederländisch-Guyana gehörig, ist Suriname seit 1975 unabhängig. Nur wenige Touristen erkunden das kleinste und unbekannteste Land Südamerikas, zwischen Guyana und Französisch- Guyana gelegen. Dabei erwarten sie im Norden die kolonialen Holzvillen der Hauptstadt Paramaribo mit UNESCO-Welterbe-Status und im Süden Regenwälder mit 1.000 Baumarten, einer reichen exotischen Fauna und kleinen Öko-Lodges. Versteckt im Dschungel haben Maroons, Nachkommen entflohener Sklaven, seit Jahrhunderten ihre Kultur entwickelt. Interessierte können im Maroon-Museum ihre Geschichte erkunden und an Urwaldtouren oder dem Dorfleben teilnehmen. Das ist touristisches Neuland: Selbst Google Maps zeigt hier ein unerschlossenes Nichts.

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Nur selten werden die Maroons von Touristen besucht. „Owekino” heißt „Guten Tag” und löst sofort freundliche Reaktionen aus. (Foto: istock/BartCo)

Das 4.000-Seelendorf Goejaba fährt sogar ein Empfangskomitee auf: Ein Dutzend Frauen in Karoröcken und bunten Kopftüchern tanzt zur Begrüßung. Mit vorgebeugtem Oberkörper stampfen sie einen afrikanischen Rhythmus in den Uferboden, singen und klatschen in die Hände. Holzhütten ducken sich unter Kokospalmen, Männer bauen ein neues Steinhaus, Kinder schauen uns verschreckt an. Doch ein fröhliches „Owekino“ löst den Bann, erstaunt antworten sie mit „Owekino“ – Guten Tag. Ermutigt durch den Erfolg des ersten erlernten Saramaccan-Wortes beginne ich mit meiner Nachbarin zu gestikulieren. Fissa bleibt von da an an meiner Seite und umarmt mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

In einem Steinhaus treffen wir Kapitein Baneys Asodanoe, das Oberhaupt, eine Art Bürgermeister mit rituellen Aufgaben. Als Insignien der Macht trägt er einen Stoffumhang, einen Sonnenschirm und einen geschnitzten Stab. Eine einfache Abwandlung der Tracht westafrikanischer Häuptlinge. Mit zwei seiner drei Frauen stellt er sich für ein Foto auf. „Für jede musste ich ein Haus bauen und eine Plantage anlegen“, sagt er. „Ich hätte gerne noch eine weiße Frau, könnt ihr beim nächsten Mal eine mitbringen?“ Die Maroon-Frauen haben in der Zwischenzeit ein Feuer entzündet und zeigen uns, wie Cassava-Brot hergestellt wird. Zwei von ihnen zerstampfen die gekochten Wurzeln mit großen Holzstößeln in einem riesigen Mörser. Eine andere siebt das Mehl, die nächste knetet den Teig und streicht die Fladen auf eine Metallplatte über dem Feuer. So verdunstet die giftige Blausäure und die stärkehaltigen Knollen werden genießbar.

Tradition: Trommel- und Tanzriten

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Tiefer Dschungel bedeckt vier Fünftel des Landes, rund 13 Millionen Hektar. Bauxitminen haben ein paar Löcher in den Urwald gerissen, der große Rest aber blieb so gut wie unerschlossen. Einige Indianerstämme haben dort ihr Zuhause, wie etwa die Maroons – Nachfahren von Sklaven, die einst in den Regenwald flüchteten. Indem man mit einem Knüppel gegen den „Telefonbaum” (s. Foto) schlägt, ruft man um Hilfe. (Foto: H. Below)

Schon im 17. Jahrhundert flüchteten Menschen aus den ersten Sklavengenerationen von den Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen der damals zwischen Holländern, Briten und Franzosen umkämpften Küstenregion. Andere sprangen gleich bei Ankunft der Sklavenfrachter ins Meer und flohen in die Wälder, stolz niemals als Sklaven gearbeitet zu haben. Sie waren die ersten freien Afrikaner in der Neuen Welt. Aus dem spanischen „cimarrón“ für entlaufenes Vieh bildete sich der Begriff Maroons heraus. Die Westafrikaner fanden sich in Sprachgruppen zusammen und errichteten im Hinterland verborgene Dörfer. Bis 1760 hatten sie Clans gebildet, revoltierten gegen die Kolonialherren und zwangen sie zu Friedensverträgen. In der Abgeschiedenheit bewahrten sie afrikanische Traditionen wie Schamanismus, Pflanzenheilkunde, Trommel- und Tanzriten und entwickelten ihre eigenen Sprachen. Heute bilden sie die größten traditionell afrikanischen Gesellschaften außerhalb Afrikas und 22 Prozent der Bewohner Surinames. Der größte Clan namens Saramacca siedelt am Mittel- und Oberlauf des Suriname.

Lebidoti erreichen wir nach einer wilden Slalomfahrt zwischen Baumskeletten im Brokopondo-Stausee. Mahnmale an den nach 1964 beim Aufstauen des Suriname ertränkten Urwald. Lebidoti blieb als einziges Dorf auf einer Halbinsel erhalten, alle anderen wurden umgesiedelt. Beim Betreten des Weilers schreiten wir unter einem Palmblatt-Vorhang hindurch, der böse Geister abstreifen soll. Etwas weiter steht ein kleiner Schrein, eine Art christlicher Altar. Nebenan hängt ein Laken auf einem Holzgestell, ein Opferplatz für Verstorbene. Beides Zeichen der geheimnisvollen Winti-Religion, die sich aus afrikanischen und christlichen Elementen zusammensetzt. Die Ahnen, die Götter der vier Elemente, Trance-Zeremonien und schwarze Magie spielen eine Rolle, der christliche Gott ist nur einer unter vielen. Kapitein Babo ist in Lebidoti für Gott und die Welt, für das Böse und Gute zuständig. Bei Gewaltverbrechen müsse er die Polizei aus der nächsten Stadt rufen, erklärt er, aber über kleinere Vergehen wie Diebstahl oder Fremdgehen könne er selbst richten. „Als Strafe verhänge ich die Verbannung aus dem Dorf oder Ausgleichszahlungen in Suriname-Dollar und Rum.“ Da klingelt sein Handy und er ist für eine Weile abgelenkt. „Wir achten auf unsere Tradition“, sagt er dann. „Hin und wieder bekommen wir Besuch aus Afrika. Und die Ältesten können sich noch mit ihm verständigen!“

Die Amandea-Liane als Badezusatz

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Holidays in Hütten. (Foto: istock/BartCo)

Zum Abschluss streifen wir mit dem Macheten-bewaffneten Simon durch den Urwald. Weit oben warnt der Buschpolizei-Vogel mit seiner Sirenen-Stimme. Unten stöbern wir in der Ideenfabrik und Apotheke der Natur und schwingen wie Tarzan an einer Liane über ein Bächlein. Eine andere Liane durchschlägt Simon mit der Machete und trinkt daraus wie aus einem Wasserschlauch. „Bitter Lemon“ findet er in den Nüssen der Bugrumaka-Palme und Rhabarbersaft in Sangrafu-Stängeln. Medizin und Wellnessprodukte muss er auch nicht lange suchen. Mit dem Mark der Buschpapaya werden Wunden behandelt, das Harz des Loksi-Baums dient zum Räuchern und die nach Marzipan duftende Amandea-Liane als Badezusatz. Manchmal hausen in den Palmnüssen auch dicke weiße Maden, die die Kinder gerne essen. Wir lehnen dankend ab, staunen dafür umso mehr über den Gecko, der sich in perfektem Camouflagedress zwischen Baumrinde und Moosen verbirgt.
Dann umringen wir einem Baum, der weit in den von Millionen Blättern verdeckten Himmel ragt. Mächtige Rippen geben ihm Stabilität und machen ihn zum Signalgeber. Simon sucht sich einen dicken Knüppel und hämmert mit aller Kraft auf die Stützwurzeln ein. Der Stamm wirkt wie ein Klangkörper und sendet einen tiefen Ton über Kilometer in das Dickicht. „Das ist der Telefonbaum“, sagt Simon, „wenn ich in der Wildnis in Not gerate, kann ich durch ihn einen Notruf absetzen!“ Dann entlässt er uns auf die einzige Verkehrsader der Region, den Oberen Suriname, und wir wissen, sollten wir uns jemals verirren, könnten wir mit einem einfachen Ast und einem Baum um Hilfe rufen.

HELGRAD BELOW

Buchtipp

Der einzige deutschsprachige Reiseführer ist „Suriname mit Weltkulturerbe Paramaribo” von Bernhard Conrad, 292 Seiten, 2011 erschienen in der Edition Aragon für 39,90 Euro. Kurz fasst sich die englische Alternative „Guyana, Guyane & Suriname” von Ben Box, 2011 aus dem Footprint Travel Guides Verlag für 19,35 Euro.

Tipps und Touren

Anreise
Mit KLM oder Surinam Airways über Amsterdam nach Paramaribo ab ca. 1.000 Euro.

Unterkunft
Luxus im Zentrum der Hauptstadt Paramaribo ganz in der Nähe der Weltkulturerbe-Stätten bietet das Royal ­Torarica ab 165 Euro im Doppelzimmer mit Frühstück.
Komfortable Holzhütten mit Hängematte auf der Terrasse und tollem Blick auf den Fluss bietet die Danpaati River Lodge auf einer Insel im oberen Suriname, sie beschäftigt Einheimische und unterstützt die umliegenden Dörfer, ab 75 Euro pro Person mit drei Mahlzeiten und Dorfwanderung. Die einfachen Zimmer auf Matu Island im Brokopondo-Stausee kosten ab 110 Euro inklusive Vollpension, ein dreitägiges ­Ausflugspaket mit Anfahrt von Paramaribo ab 315 Euro.

Essen & Trinken
Im Restaurant Tori Oso in Paramaribo genießt man neu interpretierte surinamische Fusionsküche, Fred Derby Straat 76, Tel. +597 420 234. Besitzer Oswaldo Braumuller hatte einen deutschen Großvater, bei Weltmeisterschaften treffen sich hier die Fans der deutschen Mannschaft und einmal im Monat die Dichter des Landes für Lesungen und Diskussionen. An der Straße nach Französisch-Guyana liegt Tamanredjo mit vielen authentisch indonesischen Restaurants, z. B. dem Warung Toucha. Auf dem Weg ins Inland kann man im stilvollen Bergendal Resort die gute internationale Küche genießen und danach noch eine Baumwipfeltour mit Zip-line über den Fluss unternehmen.

Touren
In vielen Dörfern ist man ohne Anmeldung nicht willkommen und kann sich in den lokalen Sprachen nicht verständigen. Ein Guide ist daher angeraten. Der deutsch­sprachige Norman McIntosh designt Touren nach Wunsch und spricht Saramaccaans und mehrere Indianersprachen, 3-Tagestour zum oberen Suriname mit Urwald- und Dorferkundungen ab 335 Euro, 8-Tage-Expedition mit dem Kleinflugzeug in den unerschlossenen äußersten Süden mit Bergen, Regenwald und ursprünglichen Indianerdörfern ab 1.250 Euro.
Benito Aloema begleitet in Englisch Ausflüge in sein Indianerdorf nahe der Küste, führt dort ein in Tänze, Initiationsriten und Glauben der Ureinwohner, zum Drehort von Papillon, ins Gefängnis (nach) Französisch-Guyana und von Februar bis Juli zu den Eiablageplätzen der Meeresschildkröten, 2-Tagestour ab Paramaribo ab 175 Euro.
Im kleinen Samaaka-Museum in Pikin Slee kann man mehr über die Hintergründe der Maroon-Kultur erfahren.

Beitragsbild: (c) stocksnap.io