Über die wirklich wichtigen Dinge des Lebens

Er ist Beststellerautor, Berater des Papstes und gefragter Vortragender: Manfred Lütz über Diät-Sadisten und die Gefahr, sein eigenes Leben zu verpassen.

Sie sind Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln. Steht in Ihrem Büro eine Couch?
Manfred Lütz: Nein. Ich ziehe es vor, meinen Patienten und Patientinnen in die Augen zu schauen. Die Psychotherapie halte ich im Übrigen für die letzte überlebende Ideologie aus dem 19. Jahrhundert, die mittlerweile wissenschaftlich völlig zu Recht erheblich infrage steht. Mir ist sie schlicht zu defizitorientiert.

Ihr Kollege Gerhard Uhlenbruck, Immunbiologe und Autor, stellte vor etwa 100 Jahren fest: „Gesundheit ist die Summe aller Krankheiten, die man nicht hat.“ Sehen Sie das auch so?
Ich halte es da eher mit Friedrich Nietzsche, der vor mehr als 100 Jahren gesagt hat: „Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.“ Wir haben heute dagegen einen weitgehend utopischen Gesundheitsbegriff, der noch dazu sakral aufgeladen ist. Das hat verhängnisvolle ethische und politische Konsequenzen. In meinem neuen Buch gehe ich unter anderem dem „Burnout-Mythos“ auf den Grund. Ich glaube, dass es in Wirklichkeit „Burnout“ gar nicht gibt, aber dass machtvolle Interessen existieren, diesen Begriff unter die Leute zu bringen.

Ihr Buch „Lebenslust“ ist eine Streitschrift gegen die Diät-Sadisten dieser Zeit. Von welchem Gericht können Sie nicht genug bekommen?
Bei „Lebenslust“ geht es auch um den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult. Das mit den Diät-Sadisten ist eher ein Nebenthema. Ich esse das, was mir schmeckt, und es gibt Studien, die besagen, dass das auch das Bekömmlichste für einen Menschen ist. Und wenn ich satt bin, dann habe ich auch genug. Es sind die Diät-Sadisten, die nicht genug bekommen können – von Körnern und anderen Sättigungsbeilagen.

In Ihrem Buch „Bluff!“ stellen Sie die These auf, dass wir in einer Scheinwelt leben, deren Fassaden uns den Blick auf die wirklich wichtigen Dinge verstellen …
Ich habe schon seit Langem das Gefühl, dass viele Menschen Gefahr laufen, ihr eigentliches Leben zu verpassen. „Bluff!“ betrifft jeden, denn ich glaube, dass wir alle heute in gefälschten Welten leben, wie in einem riesigen Potemkinschen Dorf. Egal ob in der Welt der Wissenschaft, der Finanzwelt oder der Medienwelt. Ständig sind wir von mächtigen, unter anderem ökonomischen Interessen umgeben, die uns in diesen virtuellen Welten festhalten wollen. Niemand entgeht dieser Sogwirkung gänzlich, doch es wäre eine Tragödie, wenn uns am Ende unserer unwiederholbaren, begrenzten Lebenszeit auffiele, dass wir aus Versehen vergessen haben zu leben. Deswegen habe ich „Bluff!“ geschrieben.

Was sind Ihrer Meinung nach die wesentlichen Dinge des Lebens, die uns verloren zu gehen drohen?
In all den oben genannten Welten kommen existenzielle Erlebnisse, wirkliche Liebe, kurz: echte Erfahrungen auch von Gut und Böse oder des wahren Sinns des Lebens, nicht vor. Können sie auch gar nicht. Doch man übersieht das leicht, und dann steht am Ende auf dem Grabstein: „Er lebte still und unscheinbar, er starb, weil es so üblich war.“

„Bluff!“ ist eine engagierte Aufforderung, selbst zu denken. Haben wir das eigenständige Denken wirklich verlernt?
Man sollte die suggestive Macht jener oben genannten Welten nicht unterschätzen. Es herrscht eine Atmosphäre der Political Correctness, in der bestimmte Floskeln die Debatten bestimmen und einzigartige erschütternde Erfahrungen eines jeden Lebens als nebensächliche Ausreißer gar nicht mehr ernst genommen werden. Um diese Art der Fälschung zu entlarven, muss man gerade in Europa vor allem die Fälschungen der Geschichte aus dem Weg räumen – sodass die reichen spirituellen Quellen, die zum eigentlichen Kern unserer Existenz führen können, wieder zugänglich gemacht werden. So etwas ist in der Tat auch eine Bildungsfrage. Da bemühe ich mich in meinem Buch um Aufklärung.

Wissen Sie einen Ausweg aus der großen „Truman Show“, wie Sie den gegenwärtigen Zustand der Welt beschreiben?
Es geht darum, die Scheinwelten in all ihrer Künstlichkeit und all ihrer Suggestivität zu erkennen. Wie Truman Burbank, der am Ende des Films durch eine gut versteckte Tür in die „geistige“ Freiheit findet, können auch wir uns die Erfahrungen wirklicher Liebe, wahrhaftiger Moralität und des tiefsten Sinns des Lebens offen halten.

Beitragsbild: (c) istock/Nata Snow

Zur Person

Luetz

(Foto: Jana Kay)

Luetz2Manfred Lütz ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Theologe und Kabarettist. Er publizierte zahlreiche Bestseller. 2012 erschien „Bluff! Die Fälschung der Welt“, das ebenfalls zum Erfolgsbuch wurde. Er berät große Wirtschaftsunternehmen.