Da geht noch was!

Selbstoptimierung. Foto: shutterstock ©wavebreakmedia
Volkskrankheit Selbstoptimierung: Warum wir zu viel aus den falschen Gründen machen, wann die Sucht nach Überperformance zu viel wird und warum das Mindset „Schneller, stärker, besser“ eigentlich schon wieder out ist.

Bis halb sieben Uhr morgens in den Federn liegen? Noch nie was vom 5-a.-m.-Klub gehört? Na gut, aber wer so lange pennt, sollte dann zumindest direkt in die (möglichst veganen) Laufschuhe springen und danach noch eine Runde HIIT oder Pilates anhängen – dass es Cardio allein nicht bringt, weiß mittlerweile jedes Kind. Darauf ein protein-based Breakfast (bio, versteht sich) – aber bitte auf die Portionsgröße achten, schließlich wollen wir die Kalorien (sichtbar auf der Smartwatch) nicht umsonst abtrainiert haben! Während des fair getradeten Dinkelmilch-Macchiatos wird via Podcast Italienisch gelernt und nebenbei der Insta-Feed gecheckt – mit dem Resultat, dass einem der cleane Avo-Toast fast im Hals stecken bleibt. Denn es scheint, als hätten alle anderen bereits das dreifache Pensum hingelegt.

Da, die Influencerin, Mutter dreier zuckersüßer Kids, cooler Was-mit-Medien-Job und um 7.30 Uhr schon zwei Stunden Yoga plus Gewichtheben im Studio absolviert. Kein Fältchen weit und breit, die Blunt-Bob-Frise ebenso fotogen wie das Hipster-Outfit, dazu der gestählte Körper mit Bauchmuskeln (aka Abs), bei deren Anblick man am liebsten nie wieder essen würde … Zu einem Anflug von Neid gesellt sich tiefste Verzweiflung. Warum bekommt man das selbst nicht hin? Da hilft nur eines: noch härter an sich arbeiten! Denn jeder kann die beste Version seiner selbst werden. Man muss es nur wollen.

Never-ending Baustelle

Selbstoptimierung. Foto shutterstock

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Ob Sport, Business, Alltag, Kindererziehung, Partnerschaft oder Aussehen – der Selbstoptimierungstrend der letzten Jahre kennt keine Grenzen. Auf Social-Media-Plattformen sehen wir Tag für Tag, wie das perfekte Leben auszusehen hat. Blogs und YouTube-Tutorials lehren uns, wie jeder diese Perfektion erreichen kann – ganz easy, versteht sich.

Während man sich selbst wie eine Baustelle behandelt, an der es ständig etwas auszubessern gibt, fragt man sich insgeheim: Wo sind die guten alten Couch-Gammeltage geblieben? Wieso schäme ich mich, wenn ich mir statt eines Rote-Bete-Smoothies mal ein Leberkässemmerl einverleiben oder mich Yoga eher nervt als entspannt? Und obwohl man in allen Lebensbereichen Vollgas gibt, fühlt man sich trotzdem nicht erfüllter als zuvor. Da stellt sich die Frage: Wird die ständige Überperformerei nicht irgendwann zur Selbstsabotage? Bzw. gar zum Dauerstressfaktor, der in Krankheiten wie Burnout resultiert? Was macht es so schwer, uns so wertzuschätzen, wie wir sind?

Fragen, denen sich Autorin Isabell Prophet in ihrem Buch „Wie gut soll ich denn noch werden?“ widmet. Thesen wie „Selbstoptimierung ist Selbstbetrug“ bzw. „Selbstoptimierung ist wider die menschliche Natur“ lösen bei Perfektionisten erst einmal Schnappatmung aus. Beim Lesen wird aber schnell klar, warum wir zu viel aus den falschen Gründen tun, die Suche nach dem perfekten Ich oft unglücklich macht und wie die Selbstoptimierungsmarketingmaschinerie funktioniert.

So bringt Prophet beispielsweise auf den Punkt, warum Selbstoptimierung oft riesige Löcher ins Konto reißt: Werbung oder Influencer lassen uns glauben, dass es doch ganz leicht sei, besser/schöner/leichter/glücklicher zu sein. Nur leider bringt das neue Hype-Beautyprodukt dann doch nicht die gewünschten Ergebnisse, die Muskeln wachsen nicht von selbst und die neue Morgen-/Abendroutine stresst uns mehr, als dass sie Entspannung bringt. Scheitern ist also vorprogrammiert.

Und Selbstoptimierung das perfekte Geschäftsmodell, das funktioniert, solange wir unzufrieden sind. Und unzufrieden ist zwangsläufig, wer nach fremden Idealen strebt. Die Lösung: Freundschaft mit sich selbst schließen.

Oldschool-Mindset: „Schneller, stärker, besser“ wird schon wieder out

Selbstoptimierung Irene Itene

Im Interview erklärt Coach Irene Itene, wie man zum Selfcare-Influencer wird. Foto: itene.at

Eine, die beruflich fast täglich mit dem Thema Selbstoptimierung zu tun hat, ist Irene Itene, Coach und Trainerin und Inhaberin der Akademie für Bewusstseinsbildung & Achtsamkeit in Graz. Im Interview verrät sie nicht nur, woran man merkt, dass man es mit der Selbstoptimierung übertreibt, sondern auch, warum uns die Jugend von heute in Sachen Selfcare als Vorbild dienen kann.

Woran merkt man, dass man es mit der Selbstoptimierung übertreibt?

Auf jeden Fall daran, dass man sich nicht mehr auf etwas freut und es sich aufzwingen muss. Feste Rituale zu haben, ist wichtig, um sich zu etwas aufraffen zu können. Wenn man sich aber nach der morgendlichen Laufeinheit nicht mehr über den Erfolg freut, sondern das Ganze nur noch als Punkt auf einer To-do-Liste sieht, den man absolviert, um ihn abhaken zu können, läuft etwas falsch. Viele spüren aber gar nicht mehr, dass sie sich nur noch von einem Projekt zum anderen hangeln und dabei langsam ins Burn-out rutschen. Auszubrennen bedeutet ja, sich selbst etwas anzutun, wofür der Körper gar nicht geschaffen ist. Man fährt über sich selbst drüber, nimmt Signale des körpereigenen Frühwarnsystems nicht mehr wahr oder ignoriert es einfach.

Was tun, wenn man in der Optimierungsfalle steckt und mehr darunter leidet, als dass es Spaß macht?

Das hängt ganz von Persönlichkeit und Situation ab. Fühlt man sich von notwendigen Dingen überfordert – etwa, weil man aus gesundheitlichen Gründen Sport treiben muss –, sollte man schauen, wo man zurückdrehen oder etwas ändern kann, um sich wieder darauf zu freuen. Generell geht es darum, den richtigen Mittelwert für sich zu finden. Was am besten funktioniert, wenn man sich für sich selbst Zeit nimmt, und zwar ohne Ablenkung. Sei es in der Natur oder auf der Couch. In erholsamen Phasen kommt man wieder mit sich selbst, mit seiner inneren Führung in Kontakt, hat die besten Erkenntnisse und beginnt, eigene Grenzen und Bedürfnisse wieder besser wahrzunehmen.

Auch die Kreativität beginnt wieder zu sprudeln, man kommt in den Flow – ein wichtiger Faktor im Business, um Strategien und Lösungen zu entwickeln. Nicht umsonst haben Hightech-Firmen im Silicon Valley schon seit Langem Spielinseln für ihre Mitarbeiter.

Wie schafft man es, sich in Zeiten von Social Media nicht ständig vom scheinbar perfekten Leben anderer unter Druck gesetzt zu fühlen?

Menschen, die grundsätzlich sagen „Ich bin anders”, tun sich da leicht. Viele haben aber das Gefühl, ständig mit dem Strom schwimmen und sich mit anderen matchen zu müssen. Was aus der unbewussten Motivation heraus entsteht, dazugehören zu wollen und Anerkennung zu bekommen. Da sollte man sich die Frage stellen: Was wäre, wenn ich – gerade, weil ich etwas Besonderes bin! – mir erlaube, herauszufinden, wo ich mich abhebe und was ich mitmachen will bzw. was nicht? Es geht darum, sich selbst besser kennenzulernen, zu wissen, was einem gut tut, und authentisch danach zu leben. Je früher einem bewusst wird, wie gut es tut, sich selbst die benötigte Anerkennung zu geben, und wenn man auch andere dazu ermutigt, umso besser. Damit ist man dann ja auch eine Art Influencer. „Schneller, stärker, besser” ist mittlerweile schon wieder ein Oldschool-Mindset. Gerade junge Menschen können uns da heute als gutes Vorbild dienen – es gibt viele, die regelmäßig meditieren, achtsam leben, mit sich selbst gut in Kontakt stehen, selbstbewusst Nein sagen können und allgegenwärtige Selbstoptimierungsfallen feinfühlig wahrnehmen.

Der Trend geht also in Richtung Selfcare?

Auf jeden Fall. Selfcare ist die Gegenbewegung zur Selbstoptimierung der letzten Jahre. Sprich, wer in Zukunft dazugehören will, tut gut daran, sich selbst achten und lieben zu lernen. Dankbar zu sein für das, was man hat und was man ist, und eine bewusste, demütige Haltung dem Leben gegenüber einzunehmen. Etwas, was uns die junge Generation teilweise schon vorlebt.

ANJA FUCHS

Selbstoptimierung