Britisch, rau und herzlich

Britisch, rau und herzlich
Nördlich von London finden wir ein England mit faszinierenden Details, leuchtender Patina und auch im Nieselregen umfangender Wärme. Unsere VIA-Streiflichter aus Preston, Liverpool, Blackpool, York und dem Lake District.

Möglicherweise reist hierher nur, wer Beatles- oder auch New-Model-Army-Fan ist, vielleicht restlos fasziniert von gotischer Kunst und altem Backsteingemäuer. Wenn man wieder neues Terrain entdecken will, das nichts mit Charterflügen und Touristenströmen zu tun hat. Oder alles zusammen und der Sohn studiert auch noch in einer dieser Städte. Also schauen wir nach, ob die Anti-Brexit-Eindrücke nachvollziehbar sind, wie schier unendlich viele Cider- und Bierarten wohl schmecken und wohlschmecken können und überhaupt: Wie tickt dieses Volk, das Monty Python’s Flying Circus, Wallace & Gromit, Boris Johnson und den frischen King Charles III. gleichermaßen hervorgebracht hat?

Universitätsstadt Preston

Eine farbenfrohe elf Meter hohe Skulpturen­gruppe, die in der Nacht beleuchtet ist, ziert die Uferpromenade in Blackpool. Der Künstler Jack Irving entwickelte die „Odyssey” mit Informatikern der Lancaster-Uni für das Lichtfestival 2022. (Foto: Claudia Taucher)

Spoiler: In kurzer Zeit werden wir es nicht erfassen – wohl auch, weil sogar die jungen studierenden Britinnen und Briten wenig für (politische) Diskussionen übrig haben. Egal, wir werden von Wallace & Gromit im Prestoner Sprühregen freundlich begrüßt. Auf den Erfinder Nick Park ist man hier zu Recht stolz, gehören doch einige seiner Filme mit den witzigen Plastilinfiguren (Spin-off: Shaun das Schaf) zu den oscargekrönten Animationswerken der Filmgeschichte. Der zweite Eindruck wird ganz von der University of Central Lancashire geprägt, denn die UCLan dominiert die City – das betrifft die zahlreichen Uni-Gebäude am ­riesigen Campus genauso wie das gesamte Stadt­leben, Fast Food, Barbers und Tattoo­läden.

In den zahlreichen extrem gemütlichen Pubs quizzelt studentisches Publikum und vorbeiziehend an Langzeitbaustellen und so mancher Obdachlosenschlafstätte wächst die Annahme, dass die Stadt ohne Universität eher verloren wäre. Ja, die prächtigen Avenham and Miller Parks darf man nicht vergessen, bieten sie doch eine willkommene Zuflucht mit weiten Picknickwiesen und gepflegten Blumengärten. Dass wir exakt in der mehrjährigen Restaurierungs­phase des prächtigen Harris Museum in dieser Stadt weilen, darf als besonders großes Pech verzeichnet werden: Sogar die eingerüstete Tempelfassade zeigt sich vielversprechend!

Mit Preston als unseren Dreh- und Angelpunkt sind die Ausflüge mit dem Zug ein Kinderspiel: rasche Buchung online mit QR-Code-Ticket am Handy, die Züge sind schnell, pünktlich und günstig (siehe Info S. 20)! Glücklicherweise hatten noch knapp vor unserer Reise die britischen Bahn­angestellten eine Lohnerhöhung erstritten, daher hielt uns kein einziger Streik auf.

Blackpool nach und vor dem Sturm

Die Statue von Wallace & Gromit ziert den Eingang der Market Hall in Preston. Erfinder Nick Park wird zu Recht als berühmtester Prestoner gefeiert, wurden einige seiner Animationsfilme doch mit dem Oscar ausgezeichnet. (Foto: Claudia Taucher)

Auf einer Insel urlaubend ist der Besuch der Küste ein absolutes Muss. Im wahrsten Sinne naheliegend ist hier Blackpool westlich von Preston. Nach einem riesigen „Very british“-Frühstück mit Bohnen, Würstchen (auch vegan) und Hashbrowns im Pub düst und döst man nur kurze Zeit im Zug und kippt sogleich in eine seltsam fremd anmutende Welt: Blackpool wirkt in der Vorsaison schlicht „ausgestorben“. Das 140.000-Einwohner-Städtchen gilt laut Wiki-
pedia als „eine der Geburtsstätten des modernen Massentourismus“ – der Blackpool Tower, der dem Pariser Eiffelturm nachempfunden ist (er war zur Zeit der Fertigstellung 1894 der höchste im Vereinigten Königreich), und auch der riesige Vergnügungspark Pleasure Beach zeugen von viel belebteren Zeiten – aus dem letzten Jahrhundert. Denn alles, nicht nur die angerosteten, hübsch geschwungenen, altertümlich anmutenden Metallbänke am Pier, trägt hier Patina. Dass an diesem Ort ­Szenen des Fantasyfilms „Die Insel der besonderen Kinder“ von Tim Burton gedreht wurden, passt perfekt in diese etwas morbid anmutende Atmosphäre. Der knallvolle Sommer-Eventkalender und die riesigen, bunten Skulpturen am Strand erzeugen den Eindruck, dass es hier auch hoch hergehen kann. Dennoch sind die Straßen gleich hinter der Strandpromenade verlassen, die Häuser und ehemaligen Hotels zeigen sich verfallen und Wikipedia bestätigt bedauerlicherweise, dass Blackpool eine der ärmsten Städte Englands ist und als soziales Notstandsgebiet gilt.

Liverpool, Stadt der Musik

Liverpool: The Fab Four sind hier allgegenwärtig (unten) und auf dem Weg zum Royal Albert Dock kommt man ob der imposanten und modernen Skyline aus dem Staunen nicht mehr heraus (Foto: Claudia Taucher).

Ja, o. k., der Fußball ist auch ziemlich wichtig hier in Liverpool, aber worüber man nicht sprechen kann, darüber sollte man schweigen. Also: Musik! Ebenfalls am Meer (sowie am Mersey River) gelegen ist Liverpool, wo heuer bekanntlich auch der Song Contest über die Bühne ging. Wer hier an seinen Englischkenntnissen zweifelt, dem sei gesagt: Die Stadt ist irisch angehaucht und hier spricht man den Dialekt Scouse – auch eine lokale Eintopfspezialität nennt man so und die Einwohner sind die „Scousers“. Nach einigen Tagen in Großbritannien wundert man sich nicht mehr über Schrullen jeglicher Art, sondern freut sich drüber: Uns begegnen schrill behütete und damenhaft gekleidete alte und junge Herren und kreischbunt geschminkte und geschmückte Damen beleben den ganz normalen manchmal grau-verregneten britischen Alltag.

Foto: Claudia Taucher

So auch in Liverpool, Stadt der (Beatles-)Musik, wo seit 1956 im Cavern Club viele Stars auftraten: 292 Mal (!) The Beatles, außerdem The Rolling Stones, The Kinks, The Who, Elton John und John Lee Hooker. Uns zieht es schnurstracks zu den Promenaden des Royal Albert Dock – das kulturelle Zentrum, dem mittlerweile wegen Verfalls der langjährige UNESCO-Welterbe-Status aberkannt wurde. Absolut sehenswert und faszinierend lädt das Hafengebäude zum Flanieren und Shoppen ein, wir besuchen die Tate Liverpool, eine Dependance der Londoner Tate Modern Gallery, schlagen uns ganz großartig bei Rosa’s Thai den Bauch voll und halten tapfer das Geldbörsel fest.

Lake District

„The Heart of York” nennt man das berühmte gotische Westfenster der Kathedrale von York, das aus dem Jahre 1338 stammt. Der Besuch der prächtigen Kathedrale York Minster ist ein absolutes Muss! (Foto: Claudia Taucher)

Städte sind faszinierend und bilden Gesellschaft und Kultur eines Landes wunderbar ab. Aber: Zwischendurch muss man einfach Natur tanken! Also wieder ab in den Westen: In Nordengland lockt der Nationalpark Lake District mit insgesamt 16 Seen. Das UNESCO-Welterbe (seit 2017) ist ebenso ab Preston (auch ab Manchester und London) mit dem Zug erreichbar. Unsere Station heißt Windermere und wir spazieren noch eine gute halbe Stunde hinunter zum gleichnamigen See, vorbei an entzückenden Fachwerkhäuschen. Man könnte von hier aus auch die anderen Seen mit dem Bus erkunden. Wir bleiben aber am größten See Englands und genießen die Ruhe am Wasser und die entspannte Ausflugsstimmung der Briten. Hier in diese beliebte Ferienregion zieht es alle, die Luft schnappen und den Blick in die Ferne richten wollen – weit über den 18 Kilometer langen See –, und vielleicht schnürt man auch moti­viert die Wanderschuhe. Denn das bergige Gebiet in „The Lakes“ führt an steilen Klippen und Wasserfällen vorbei – und an zahlreichen Schafen, die fleißig und vom Wetter unbeeindruckt den englischen Rasen „mäh“en. Auch eine Schifffahrt lockt als kontem­plative Abwechslung.
Für Eltern mit kleinen Kindern lohnt sich der Besuch von The World of Beatrix Potter
in Bowness on Windermere. Die Kinderbuchautorin (1866–1943) lebte am See und rund um ihren „Peter Hase“ kann man hier  Theater, Shows und Partys erleben.

The Heart of York

Am nächsten Tag war ein spontaner Schwenk in den Nordosten fällig: York stand nach einem Ausflugstipp eines Einheimischen auf unserem digitalen Zug­ticket und es stellte sich als echtes Highlight dieser ­Reise heraus. Die am Fluss Ouse gelegene Stadt wurde nämlich von Römern gegründet, war damals Hauptstadt Nordbritanniens und zeugt heute noch mit der Burgruine York Castle von der rauen ­Wikingerzeit. Auf der mittelalterlichen Stadtmauer spazierend verschafft man sich einen faszinierenden Überblick über die freundliche 200.000-Einwohner-Stadt mit ihren engen Gässchen, beschaulichen kleinen Läden und gemütlichen Pubs.
Die gotische Kathedrale York Minster aus dem 13. Jahrhundert ist die größte mittelalterliche Kirche in England und schlicht atemberaubend: Eine Fensterwand ist so hoch wie die Länge eines Tennisfeldes. Das berühmte, wunderschöne Heart of York, ein Fenster mit herzförmigem gotischen Maßwerk, hat sich ebenso in unser Herz geschlichen wie die Warmherzigkeit und Hilfs­bereitschaft der Nordengländer, der man hier überall begegnet. Mögen die Schrullen noch so schrill, die Umstände noch so rau sein, der Umgangston ist immer freundschaftlich und herzlich.

Von Claudia Taucher

 

Beitragsbild: Pefkos/Adobe Stock