Menschsein in Fülle erforschen

Brüste und Vulven – üppig, machtvoll, friedsam.  Die Grazer Künstlerin Marina Stiegler baut Brücken über Jahrtausende und bringt das Urweibliche in moderne Formen- und Zeichensprache. Auf den zweiten Blick.

Foto: cstrobl

Marina Stiegler

  • Geb. 1978 in Salzburg, lebt in Graz.
  • Tätig in den Bereichen Skulptur, Malerei, Musik, Workshops und partizipative Kunstprojekte.
  • Künstlerin, Kunsttherapeutin und Lehrtätigkeit an der Ortweinschule für Kunst und Design in der Fachsparte Keramik.
  • Sängerin und Songwriterin bei Marinski Rio sowie Marinski & Lepenik.
  • Ausbildung: Meisterklasse für keramische Formgebung, Ortweinschule Graz; Berufsfachschule für Holzbildhauerei, Deutschland; Mal- und Gestaltungstherapeutin, MGT Institut Graz.
  • Ausstellungen und Kunstprojekte in Österreich und Deutschland.
  • Musik: Das Album „Red Ink” mit Marinski Rio erschien Ende Jänner 2022.

Geerdete Göttinnen, deren friedliche Macht Leben schenkt: Stieglers Kunst zeigt Menschen in starker Verbindung mit der Urkraft der Natur. (Foto: Marina Stiegler)

Marina Stiegler und die Kunst

„Die Verbindung mit den Wurzeln der Kunst hilft mir, das Menschsein zu erforschen und an den Ausdruck zu glauben.“ Marina ­Stiegler­ taucht gerne in die frühe Geschichte der Kunst ein – beinahe zwangsläufig stößt man dabei auf Göttinnen, deren Symbolsprache und die archaische Kraft, die von den Darstellungen des Urweiblichen ausgeht. Dass es der Wahlgrazerin ein Anliegen ist, diese im 21. Jahrhundert neu zu interpretieren und „in die Jetztzeit zu beamen“ (Stiegler), wird klar, sobald man ihr Grazer Studio im Freien Atelierhaus Schaumbad betritt: Man sieht sich umringt von Venusfiguren, markanten grafischen Formen, den Farben Naturweiß, Hellbraun, Mattschwarz und Gold – alles spiegelt erdig und geerdet das Weibliche, das Nährende und Schützende wider. Ein Raum, der Kraft und Ruhe aussendet, trotz der üblichen kunterbunten Werkzeugfülle mit all ihren Farb­tuben, Pinseln und Leinwänden.

Von Schrift zu Ton

Das weibliche Prinzip, Mutter Erde, habe sich, so die Künstlerin, beinahe „automatisch“ in ihrer Kunst festgesetzt. Davor jedoch begann ihr künstlerischer Ausdruck in Schriftform, denn „zuallererst war das Schreiben“, erzählt die gebürtige Salzburgerin. Ein „Tage- und Nachtbuch“ war ständiger Begleiter und erstes künstlerisches Ventil – eine Grundlage, aus der sich Malerei, Skulptur, Grafik und auch ihre Liebe zur Musik entwickeln sollten. Denn Sprache war Stiegler bald zu wenig – sie wollte „etwas mit den Händen machen“ und so kam sie mit 23 Jahren zur bildenden Kunst.

In der Meisterklasse für keramische Formgebung an der Grazer Ortweinschule und in der Berufsfachschule für Holzbildhauerei in Berchtesgaden manifestierte sie ihre Kunstfertigkeit und stellte so die bildende Kunst in den Vordergrund. „Hier mache ich mein eigenes Ding“, unterscheidet Marina Stiegler von ihrer zweiten Leidenschaft: „Die Musik ist ständige Begleiterin, aber nichts, was ich allein mache.“ Ihre Liebe zum Songschreiben und Singen lebt sie sowohl in der Formation Marinski Rio als auch mit ihrem Mann im Duo als Marinski & ­Lepenik aus. Kürzlich erschien bei Pumpkin Records das neue Album „Red Ink“ mit
Marinski Rio. „Beides sind Teile von mir“, beschreibt die Vielseitige.

„Die Verbindung mit den Wurzeln der Kunst hilft mir, das Menschsein zu erforschen, an die Kraft des Ausdrucks zu glauben und an die Kraft, die Welt selbst zu gestalten.“ – Marina Stiegler

Foto: Marina Stiegler

Das Menschsein begreifen

Für Stiegler geht es in der Kunst grundsätzlich darum, „in das Menschsein einzutauchen, es besser zu verstehen – die Suche nach Essenz“. Dieser Zugang verbindet die Kunstformen, aber es gibt auch einen anderen Konnex: „Manchmal steht ein Lied in Verbindung mit einer Skulptur, manchmal entsteht eine Skulptur aus einem Lied“, erzählt die Künstlerin. Das Thema Frau findet sich sowohl in ihrer bildenden Kunst als auch in der Musik.
Der Blick zu den Wurzeln, den Urformen der Kunst, damit beschäftigt sich Stiegler intensiv: „Das Urweibliche, der Archetyp Mutter Erde zieht mich an.“

Die Göttinnendarstellungen und ihre Symbolsprache sieht sie als riesigen Schatz und Reichtum, den es zu heben gilt, und spürt dadurch „so etwas wie eine Hoffnung, dass Menschen vor Tausenden von Jahren Dinge erschaffen haben, die sie mit einer göttlichen Kraft verbunden haben“.
Menschen an das Gestalterische anbinden, das ist für Marina Stiegler auch eine wichtige Triebfeder für ihre Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen, die sie mit ihrem Werkzeug der Kunsttherapie begleitet. Sie taucht damit in die aktuellen Lebenswelten ein und hilft mit „em­powernden“ Übungen dabei, die eigenen (weiblichen) kraftvollen Ressourcen ans Licht zu bringen, um damit das Leben selbstständig zu gestalten.

 

„Das mütterliche Prinzip kann jede und jeder ausleben – das Nährende, Unterstützende, Empathische kann man als Mann oder Frau haben.“ – Marina Stiegler

Brückenschlag

Auch in ihrer eigenen Kunst baut Marina Stiegler Brücken von längst vergangenen Urzeiten hin in die Gegenwart. Ihre Figurinen aus Keramik muten oberflächlich ­betrachtet ausschließlich archaisch an:
Naturmaterialien wie Holz, Ton, Natur­leinen, Asche; Naturfarbtöne, schlichte, ruhige Ausstrahlung, dazu der Fokus auf üppige, weibliche Formen, bekannten Abbildungen von Fruchtbarkeitsgöttinnen ähnlich. In ihrer Vorjahresausstellung von Gemälden mit dem Titel „SHE“ brachte sie diese alten Darstellungen der Göttinnen wieder besonders in unser Bewusstsein, „um es nicht zu vergessen, dass die Menschen einmal sehr verbunden waren mit der –weiblichen – Natur. Wir brauchen diese Verbindung wieder“, stellt Marina Stiegler mit Nachdruck fest und betont den lebens- und friedenbringenden Aspekt, den sie damit in Verbindung bringt.

Doch es ist in Stieglers Kunst nicht nur dieses Aufleben­lassen archaischer Darstellungen: Bei näherer Betrachtung, auf den zweiten Blick sozusagen, springen dort und da Icons aus unserer Gegenwart ins Auge – moderne Zeichen der Jetztzeit.
Diese Symbole aus der digitalisierten, technisierten Welt bringen die urigen Gestalten direkt in unseren Alltag: Ein Kopf mit WLAN-Symbol (Full Signal) oder mit einem Power Button beziehungsweise Einschalt-Icon. Hirn einschalten erlaubt, das möchte man ironisch anmerken, doch Stieglers Zugang ist ein durchwegs positiver, der Hoffnung macht und zugleich zeigt, dass wir Menschen nicht allein sind auf diesem Planeten; selbst wenn wir zeitweise unfreiwillig separiert das Ende einer Pandemie herbeisehnen.
Wir sind trotz alledem verbunden mit allen und allem – Full Signal –, wir können unsere Kraft selbst „einschalten“ und mit dem „Außen“ rund um uns kommunizieren und eben auch selbstbestimmt und -verantwortet „ausschalten“ und ruhen, wenn wir das wollen. Wir haben diese friedsame Macht über unser üppiges Leben.

CLAUDIA TAUCHER

 

Beitragsbild: Sophie Ederer