Da haben sich zwei Vielseitige gefunden: Der Eggersdorfer „Brennnesselbauer“ Franz Wuthe rückt eine heimische und heimliche Wunderpflanze in den Mittelpunkt, weil sie viel mehr Beachtung verdient.
Franz Wuthe Trockenstadl

Franz Wuthe und sein Brennnessel-Trockenstadl, den er sich zu seinem Römerhof in Eggersdorf dazu gebaut hat. | Foto: Taucher

„In meiner Kindheit war die Brennnessel immer schon ein Nahrungsmittel“, erzählt Franz Wuthe. Der Spinat, den die Mutter aus dem „Unkraut“ zubereitete, war eine Selbstverständlichkeit am Familientisch. Die Verwendung der üppig wachsenden Pflanze war aber nicht auf den kulinarischen Bereich beschränkt: Mit dem Aufguss der Blätter putzte man daheim auch die Fenster, und zwar sehr effektiv. Die Brennnesseljauche diente zur Schädlingsbekämpfung im Garten. Das alles wusste der Grazer als Kind noch nicht wirklich zu schätzen, der Ausschlag vom Ernten war dafür viel zu lästig. Aber als Wuthe Jahrzehnte später das alte Bauernhaus in Eggersdorf bei Graz gekauft hatte, stand mit Blick über das Grundstück ganz offensichtlich fest: „Jetzt bist du Besitzer einer Brennnesselplantage.“ Das war der erste Anstoß für sein ganz besonderes „landwirtschaftliches Forschungsprojekt“ – denn da musste doch was zu machen sein mit diesen Brennnesseln!

Klassische Marktlücke

Wuthe begann, sich intensiv mit dieser lange Zeit als Unkraut verpönten Pflanze zu beschäftigen, und schnell  wurde ihm klar, wie unglaublich zahlreich die Verwendungsmöglichkeiten sind. Marktnischen waren immer schon interessant für den erfolgreichen Unternehmer, also beschloss er kurzerhand, diesen riesigen Schatz zu heben und die besten Seiten dieses Wunderkrauts bekannt zu machen. Und davon gibt es tatsächlich unheimlich viele! Es beginnt damit, dass die Brennnessel nicht nur üppig wächst, wenn man sie lässt, es gibt auch bis zu vier Ernten im Jahr.

Kulinarische Vielfalt

Trockenstadl

Hier im Stadl hängen die gesundheitsfördernden Brennnesselpflanzen büschelweise kopfüber zum Trocknen. | Foto: Taucher

Mit einem befreundeten Koch und auch seinem Bruder Harry begann die kulinarische Experimentierphase, denn mehr als 200 gesammelte Rezepte mit der  Nessel wollten auch ausprobiert werden. Von Quiche über Suppen, Nudeln, Pizza bis hin zu Nudelfülle, Pesto und Gewürzmischungen reichen die spannenden Kreationen. „Man kann aus den Blättern Chips herstellen, sie in Rindsrouladen einrollen oder Käse damit einwickeln“, umreißt der findige „Nesselforscher“ die Anwendungsmöglichkeiten in der Küche. „Ich verwende im Frühling die zarten Blätter für den Salat, die größeren Blätter trockne ich für Tee und im Herbst nehme ich die Samen ab. Die streue ich über Salat oder auch auf mein Frühstücksei und verfeinere damit auch den eigenen Honig.“

Für viele ist der Umgang mit der „brennenden“  Pflanze gewöhnungsbedürftig, aber hier kennt der Fachmann einige Tricks, wie man ohne Ausschlag erntet und verarbeitet. Es gilt nämlich, die Brennhaare an der Blattunterseite zu brechen. Ernten mit Handschuhen ist durchaus sinnvoll, obwohl der Experte auch das mit einem geschickten Griff ohne Ausschlag schafft. Und für die Weiterverarbeitung gilt: „Wenn man die rohen Blätter mit einem Nudelwalker auswalkt, brechen die Brennhaare an der Unterseite der Blätter“, erklärt Wuthe, „dann kann man sie für jeden Salat verwenden“. Die ganz jungen, zarten Blätter sind auch ohne diese Behandlung im Salat „ungefährlich“.

Starker Stoff aus Brennnessel

Anzug aus Brennnessel

Anzug aus Brennnesselstoff | Foto: KLIPP/Zaunschirm

Die Recherchen und Entdeckungen, einmal losgetreten, weiteten sich in der Folge rasch aus und eins ergab das andere. So hörte sich Wuthe bald um, wo man  heutzutage Brennnesseltextilien beziehen könne. Vor allem bis ins 18. Jahrhundert war die Herstellung eines Garns, aus dem ein Stoff für Kleidung gewebt werden konnte, noch üblich. So fand er heraus, dass ein Hamburger Maßschneider diesen speziellen Stoff verarbeiten kann und auch bereit ist, einen Anzug aus  Brennnesselstoff anzufertigen. Wo aber wird ein solcher hergestellt?

„Ich habe herausgefunden, dass in Nepal Brennnesselstoffe hergestellt werden. Dort werden die Pflanzen bis zu drei Meter hoch“, erzählt Wuthe von seiner quasi weltweiten Suche rund um die Nessel. Die hohen Pflanzen ergeben dann die extralangen Bastfasern, mit denen man das robuste Garn herstellen kann. Man mag sich so einen Nesselstoff vielleicht kratzig vorstellen – tatsächlich fühlt sich das Gewebe stark und glatt an, keine Spur von rau, und es sieht aus wie ein sehr grob gewebter Leinenstoff.

Brennnessel-Marsch-Anekdote

Die Reise nach Hamburg für die Fertigstellung des Nessel-Maßanzugs ergab ein weiteres Puzzlestück zum Thema. Als Freund der klassischen Musik und Mitglied der Österreichischen Richard-Wagner-Gesellschaft hatte sich Wuthe in Hamburg auch mit dem jungen Shootingstar Patrick Hahn verabredet, der zu  dieser Zeit dort am Opernhaus tätig war, um ihn für einen Liederabend in Graz zu engagieren. Der geniale und genauso unkomplizierte Musiker, außerdem gebürtiger Eggersdorfer, fand offenbar Gefallen an der Brennnessel-Leidenschaft und Wuthes Idee, einen Brennnessel-Marsch zu komponieren.

Der umtriebige Musiker Patrick Hahn war auch für diesen außergewöhnlichen Auftrag zu begeistern. So kam der „Brennnesselbauer“ nicht nur mit einem Maßanzug aus der Wunderpflanze von Hamburg retour, sondern hatte auch das Engagement Patrick Hahns in der Tasche UND die Aussicht auf einen eigens komponierten Marsch zu Ehren der Supernessel. Zwei Jahre später wurde der Marsch übrigens tatsächlich in Eggersdorf vom hiesigen Musikverein uraufgeführt – und niemand Geringerer als Patrick Hahn selbst griff bei diesem Anlass zum Dirigentenstab. Der Initialzünder dieses Events, Franz Wuthe, applaudierte begeistert und selbstverständlich stilecht im Hamburger Brennnesselanzug …

Noch viel mehr Ernten

Franz Wuthe

Die Brennnessel ist eins der „landwirtschaftlichen“ Forschungsprojekte” von Franz Wuthe. Auch Lavendel und neuerdings Knoblauch beschäftigen den immerzu neugierigen Geist. Sein eigener Römerhof-Honig wurde bereits mit Gold ausgezeichnet. | Foto: Alfred Ninaus

An einer Brennnesselfarm und einer dazugehörigen professionellen Vermarktung ist Wuthe nicht gelegen. „Die wilde Brennnessel ist für alle Zwecke das Beste!“  Wichtiger ist ihm sein „Versuchslabor“ sowie seine Erfahrungen und sein Wissen weiterzugeben; an alle Menschen, die den großen Wert dieser Pflanze schätzen und die zahlreichen Möglichkeiten selbst ausprobieren und nützen wollen. Für die Verbreitung der Brennnessel-Leidenschaft war bereits ein Filmteam rund um Regisseur Alfred Ninaus auf dem Römerhof in Eggersdorf. Der Streifen wird in „Heimatleuchten“ auf Servus TV zu sehen sein. Außerdem plant Wuthe, ein Buch über die Vielfalt der Brennnessel zu gestalten – mit unzähligen Tipps und Tricks rund um das unglaublich wertvolle „Unkraut“ und vielen Rezepten für die wilde und brennende Gaumenfreude.

Die vielseitige Brennnessel

Die Brennnessel ist protein-, vitamin- und mineralstoffreich, die ganze Pflanze ist von der Wurzel bis zur Blüte nützlich.

Essen und Trinken: Blätter, Blüten und Samen können als Spinat gekocht werden, die jungen Blätter als Salat genossen. Die Verwendung in der Küche reicht von Brot über Pizza und Pesto bis hin zur Suppe. Als Brennnesselschnaps und -sirup ist die Pflanze ebenfalls genießbar. Aus den Samen kann wertvolles Öl gewonnen werden.

Heilmittel: Frische oder getrocknete Blätter finden als Heilmittel Anwendung durch die harntreibende und blutreinigende Wirkung.

Kosmetik: Die Wurzel wird in der Kosmetik als Shampoozusatz, in Haarwasser oder Haarwuchsmitteln verwendet, da sie die Durchblutung der Kopfhaut anregt.

Haushalt und Garten: Fensterputzen mit dem Aufguss, Düngen und Schädlingsbekämpfung mit Brennnesseljauche und -sud. Die Pflanze eignet sich auch zum Färben (z. B. von Ostereiern).

Textilien: Aus den Bastfasern der Brennnessel wurden vor allem bis ins 18. Jahrhundert Garne, Stoffe, Netze und Stricke hergestellt.

Tierfutter: Das angetrocknete Kraut eignet sich auch als Futter für Schweine, Rinder, Schafe, Geflügel (v. a. Kükenzucht) und auch für die  Weinbergschneckenzucht. Der Samen ist ein gesunder, stärkender Futterzusatz für Pferde.

Forschung rund um Brennnessel

Foto: Alfred Ninaus

CLAUDIA TAUCHER