Pojezierze Mazurskie, die Masurische Seenplatte, ist die größte Wasserlandschaft Polens, hoch im Norden an der Grenze zu Litauen und Kaliningrad: ein Paradies für Pilzsucher, Vogelfreunde und Wassersportler.
Auf einmal war sie weg, in voller Montur einfach über Bord gegangen, ohne sich abzumelden. So manche Landemanöver am Mauersee können für die Crew unerwartet feucht enden, wenn der Hausbootkapitän noch nie einen morschen Biwakanlegeplatz mit angezogenem Schwert verkehrt angesteuert hat, die Böen zunehmend unangenehm werden und die Wellen kleine Krönchen tragen. Das kann vorkommen, auch an allen anderen Seen hier. Und davon gibt es genug.
Eigentlich ist das Gebiet ein Teil des ehemaligen Ostpreußen, das als Ermland-Masuren bekannt war. Und geografisch kennt auch niemand die genauen Grenzen, jedenfalls irgendwo im Sechseck Elk (Lyck), Pisz (Johannisburg), Mrągowo (Sensburg), Kętrzyn (Rastenburg), Węgorzewo (Angerburg) und Mikolajki (Nikolaiken). Den Namen Masuren selbst gibt es seit dem 18. Jahrhundert, als sich Tausende evangelische Zuwanderer aus dem südlich gelegenen Masowien in Ostpreußen ansiedelten. Masowier heißt eigentlich Mensch, und davon gibt es mehr, als man meinen möchte, in kleinen Weilern mit sumpfig grünen Wiesen zwischen den dunklen, torfigen Nadelwäldern Nordpolens, wo sich Elche und Luchse, Wisente und Schwarzstörche recht ungestört Gute Nacht sagen können, wenn die Mücken nicht stören.
Masuren gilt nicht zu Unrecht als grüne Lunge Europas, mit endlosen Kiefern, Heiden und rund 3.500 Seen – diese bilden 15 Prozent der Fläche, sind oft durch Flüsse und jahrhundertealte Kanalsysteme miteinander verbunden und bilden Überbleibsel der letzten Eiszeiten. Diese haben auch die hügelige Moränenlandschaft des Baltischen Höhenrückens hinterlassen, die mit der Dylewska Góra (Kerndorfer Höhe) auf knapp über 300 Meter ansteigt. Dass die Schauspielerin Ingrid van Bergen, eine der bekanntesten Töchter der Masuren, gerade so heißt und nicht anders, wirkt fast skurril.
Noch 1910 gab mehr als die Hälfte der rund 450.000 Einwohner Deutsch als Muttersprache an, was spätestens mit Ende des Zweiten Weltkriegs Geschichte war. Der Südteil der Masuren ging an Polen, der Nordteil an Russland. Auch die Ortsnamen wurden polonisiert, wobei großteils wieder auf die alten preußischen Namen zurückgegriffen wurde.
Nicht nur die Preußen sind jedenfalls wieder da, gehen einkaufen zu Lidl in Lötzen (Gižycko), der masurischen „Sommerhauptstadt“, und buchen Segeljachten und Hausboote längst auch online, bequem von daheim. „Eine Woche ist das Minimum, da kommt ihr fast überall hin“, sagt Wojciech, Kassier an einer der halb schwimmenden Tankstellen hier. Motorbootführerschein braucht hier keiner, auch für 10-Meter-Kähne genügt eine kurze Demo-Fahrt, wem das reicht. Und dann kann’s losgehen, nicht selten bei Wind und Wellen, siehe oben. Wir haben sie jedenfalls alle rasch herausgezogen, nix passiert, nur das Fernrohr für die Vogelbeobachtung in der Jackentasche blieb noch monatelang angelaufen. Und das ist schade, denn bunte Vögel gibt es genug hier. Schräge übrigens auch.
Keine Städte, keine Industrie, nur ein paar verwinkelte Landstraßen, oft in tunnelartigen Alleen, wo sich auch knallgrüne Polski-Fiats kaum abheben. Eines der letzten der nicht allzu schwer zugänglichen großen Naturparadiese Europas ist jedenfalls kein Geheimtipp mehr, auch wenn die ersten versprengten Touristen schon vor 140 Jahren gesichtet wurden. Rad und Hausboot, Kajak und Segeln sind seit Jahren gut im Geschäft, im Winter entdecken immer mehr Eissegler und Snowkiter die oft monatelang zugefrorenen Seen. Nur ein kleiner Teil der Masuren steht seit 1977 unter Schutz – der Masurische Landschaftspark (Mazurski Park Krajobrazowy) am Spirdingsee, mit 114 Quadratkilometern oft als „Masurisches Meer“ bezeichnet. Überall sonst fürchtet man bei zu vielen Regulierungen um den Tourismus, für etliche der früheren Fischersleute und Bauernfamilien längst die Haupteinnahmequelle.
Ein paar stehen an den Straßen und verkaufen Eierschwammerl und Heidelbeeren. Andere produzieren Bigos, einen Eintopf aus Sauerkraut und Wurst, oder Pierogi, gefüllte Teigtaschen. Nicht wenige verdienen sich ihr Abendbrot mit Shantys, Seemannsliedern, die zu jedem Folk-Festival und masurischen Heimatabend dazugehören, die an den Dutzenden größeren Anlegestellen in der Sommer-Hochsaison oft schon Tradition geworden sind. Viele davon haben auch eine tragische Geschichte: Stynort (Steinort) etwa, der verfallene Sitz der Familie von Lehndorf, einer der einflussreichsten ostpreußischen Adelsfamilien, die nach dem misslungenen Attentat auf Hitler auf der Wolfsschanze teils hingerichtet wurde.
Oder die Bunkeranlage Mauerwald am Masurischen Kanal, mit 30 moosverwachsenen Stahlbetonbunkern mittendrin im schlammigen Dickicht, mit Reichsflugscheiben und Kindergasmasken im Souvenirshop. Dazu ein paar Ordensritterburgen, preußische Gutshöfe und Wassertürme, Kormorane und Kraniche, Erlen und Mohn. Und längst auch Trockenanlagen in vielen Marinas, für nasses Gewand an windigen Tagen, speziell für seensüchtige Landratten. Kopf hoch und willkommen: Witamy w Mazury!
GÜNTHER SPREITZHOFER
Zum Weitersurfen
Reiseportal Masuren: www.masuren.de
Hausboot und Radverleih: www.masurenrad.de
Hausbootvermietung: www.hausboote-masuren.de
Geschichte, Aktuelles, Literarisches: www.ermland-masuren-journal.de
Aktuelle Reiseinformationen, Hotels, Tipps für die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in Danzig und Umgebung: www.danzig.info
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